Die politische Idiotie, Religion als wichtiges gesellschaftspolitisches
Element zu sehen, obwohl in Europa Religion immer mehr an Bedeutung verliert,
muss öfter und deutlicher angeprangert werden. Der nach Europa eingewanderte
Islam dominiert deshalb inzwischen die davon betroffenen Migranten, die Politik
redet mit den Klerikern, nicht mit den Menschen, die Kleriker gewinnen damit
Bedeutung, ebenso ihre Glaubensgemeinschaft. Dass der deutsche Bundespräsident
Christian Wulff (wahrscheinlich ein christlicher Fundamentalist, siehe Info
Nr.210) mit seinem Spruch "Der Islam gehört zu Deutschland" antisäkular,
antiintegrativ und proreligiös
wirkte, wird er vermutlich in seiner christlichen Einfalt gar nicht begreifen
können. Ebenso unbegreifbar bleibt dem Herrn Wulff, dass Religion in der
großen Mehrheit der Menschen in Europa was Nebensächliches und Belangloses ist.
Religiöses Desinteresse und Kirchenferne ist die Regel.
Der deutsche Religionskritiker
Michael Schmidt-Salomon liest deshalb dem deutschen Bundespräsidenten die Leviten.
Christian Wulff hat es zweifellos gut gemeint: Er wollte sich am "Tag
der Deutschen Einheit" als "Präsident aller Deutschen" erweisen.
Leider aber verfehlte er dieses Ziel in einem Ausmaß, das erschreckend ist.
Es
begann damit, dass Wulff in seiner Rede zwar von Juden, Christen und Muslimen
sprach, jedoch die zahlenmäßig größte Bevölkerungsgruppe in Deutschland,
die Konfessionsfreien, übersah. Man fragt sich: Hat noch niemand den Herrn Bundespräsidenten
darüber aufgeklärt, dass die Kirchenmitgliedschaft in Deutschland auf einen
historischen Tiefststand gesunken ist? Dass nur noch 29,7 bzw. 29,6 Prozent
der Bevölkerung der Katholischen bzw. Evangelischen Kirche angehören, jedoch
die Gruppe der Konfessionsfreien auf 34,6 Prozent angewachsen ist? Weiß das
Bundespräsidialamt wirklich nicht, dass es in Deutschland mehr konfessionsfreie
Menschen gibt als Katholiken oder Protestanten? Wo also blieben die konfessionsfreien
Menschen in der Rede des Bundespräsidenten? 28 Millionen Menschen, mehr als
ein Drittel der Bevölkerung, sind doch keine Peanuts, die man so einfach übersehen
könnte!
Aber auch in anderer Hinsicht zielte Wulff kolossal an der Realität
vorbei. So ging er stillschweigend davon aus, dass die in Deutschland lebenden
"Juden", "Christen" und "Muslime" sich mehrheitlich
auch als solche religiös definieren würden. Nichts aber könnte verkehrter sein!
Denn was bedeuten die Label "Jude", Christ", "Muslim"
tatsächlich? In der Regel nicht mehr als das: "Jude" ist, wer von
einer jüdischen Mutter geboren wurde, "Christ", wer als unmündiger
Säugling in eine Konfession hineingetauft wurde, "Muslim", wer von
einem muslimischen Vater abstammt. Dies sagt nichts darüber aus, was die so
etikettierten Menschen wirklich denken. Die religiöse Etikettierung verzerrt
die Realität vielmehr in dramatischer Weise: Schließlich wissen wir, dass die
Mehrheit der Juden (weltweit wie auch in Deutschland) säkular ist, also: ungläubig
im Sinne der jüdischen Religion. Das Gleiche gilt für die Mehrheit der in Deutschland
lebenden Kirchenmitglieder. (Fragt man das Glaubensbekenntnis ab, so stellt
man fest, dass weniger als 20 Prozent (!) der Kirchenmitglieder die fundamentalen
Überzeugungen des christlichen Glaubens teilen. Die "Entchristlichung"
ist in unserer Gesellschaft also bereits viel weiter vorangeschritten als die
"Entkirchlichung"). Selbst bei den Muslimen kommt man in Sachen Glaubensfestigkeit
zu überraschenden Ergebnissen: Etwa die Hälfte der in Deutschland lebenden Muslime
ist faktisch nichtgläubig und müsste eigentlich zur Gruppe der Konfessionsfreien
hinzugezählt werden, die somit auf einen Bevölkerungsanteil von über 36 Prozent
käme.
Deutschland ist ein säkularer Staat
Worüber sich
die Kommentatoren der Bundespräsidentenrede am meisten ereiferten, war Wulffs
Aussage, der Islam gehöre zu Deutschland. Auch das war zweifellos gut gemeint.
Wulff wollte die Muslime nicht als Bürger 2. Klasse verstanden wissen. Tragischer
Weise unterschied er aber nicht zwischen den real existierenden Muslimen und
"dem Islam" (was immer "der Islam" auch sein soll). Offensichtlich
hat der Bundespräsident noch niemals einen Gedanken daran verschwendet, was
die Aussage "Der Islam gehört zu Deutschland" für all die "Muslime"
bedeutet, die aus islamischen Ländern geflohen sind, um hier in einer offenen,
d.h. religiös nicht gemaßregelten Gesellschaft zu leben. Werden sie sich nach
Wulffs Ansprache wirklich heimischer in Deutschland fühlen? Ganz bestimmt nicht!
Ebenso wenig werden sie sich darüber freuen, dass einige scheuklappenblinde
SPD- und Grünen-Politiker die Wulffsche Vorlage dazu nutzten, um für islamische
Gruppierungen die gleichen absurden Privilegien zu fordern, die eine vernünftige
Politik den Kirchen längst schon (!) entzogen hätte.
Denn Deutschland
ist ein säkularer Staat. Die Werte, die diesen Staat konstituieren, entstammen
weder dem Judentum, noch dem Christentum, noch dem Islam, sondern der reichen
Tradition von Humanismus und Aufklärung, die Christian Wulff in seiner Rede
peinlicherweise übersehen hat. Vergessen wir nicht, dass die Demokratie im antiken
Griechenland erfunden wurde und nach der Machtübernahme des Christentums für
ein Jahrtausend von der politischen Bühne verschwand. Vergessen wir auch nicht,
dass die Werke der modernen Demokratietheoretiker, etwa die Schriften Rousseaus
zur Volkssouveränität oder Montesquieus zur Gewaltenteilung, bald nach ihrem
Erscheinen auf dem Index der verbotenen Schriften der katholischen Kirche landeten.
Angesichts der katastrophalen Unbildung, die in der Politikerkaste offensichtlich
vorherrscht, muss man hier zudem noch auf die triviale Tatsache hinweisen, dass
auch die Idee der Menschenrechte nicht auf religiösem Fundament, sondern im
Zuge der Amerikanischen und Französischen Revolution entstand und dabei maßgeblich
von dezidierten Freigeistern wie Thomas Paine und Thomas Jefferson geprägt wurde.
Von Seiten der religiösen Führer Europas gab es in dieser Hinsicht keinerlei
Unterstützung. Im Gegenteil: Bis ins 20. Jahrhundert hinein taten sie sich insbesondere
dadurch hervor, dass sie die Menschenrechte als "gotteslästerliche Anmaßung
des Menschen" verunglimpften.
Gleich welchen Aspekt des modernen
Rechtsstaats wir auch fokussieren, ob die Freiheit der Meinungsäußerung, die
Frage der sexuellen Selbstbestimmung oder die Gleichberechtigung von Mann und
Frau: Die Religionen waren summa summarum keine Motoren, sondern Bremsklötze
des kulturellen Fortschritts - und sie sind es bis zum heutigen Tage geblieben!
Das heißt nicht, dass Juden, Christen und Muslime nichts zum Erfolg der Aufklärung
beigetragen hätten. Nur: Wie gläubig waren jene, die in vorderster Front im
Dienst der Aufklärung standen? Waren Spinoza, Marx, Freud oder Einstein fromme
Juden? War Immanuel Kant, der in frommen Ritualen bloß "Religionswahn und
Afterdienst Gottes" sah, ein wirklicher Christ? War der große persische
Gelehrte Al-Razi, der den Koran als "befremdendes Gemenge von absurden
und unzusammenhängenden Fabeln" bezeichnete, ein gläubiger Muslim? Mitnichten!
Die Mär von der angeblich bis heute positiv prägenden Kraft der Religionen bricht
wie ein Kartenhaus in sich zusammen, wenn man sich die Mühe macht, etwas genauer
hinzuschauen.
Bürger wollen die offene Gesellschaft
Wer
heute noch die Rede vom "christlichen Abendland" strapaziert, oder
wie Wulff vom "jüdisch-christlichen Abendland" spricht (was ideologisch
übertüncht, dass Christen über Jahrhunderte hinweg nichts Besseres zu tun wussten,
als die vermeintlichen "jüdischen Gottesmörder" zu lynchen), beweist
damit nur eines: seinen akuten Bildungsnotstand. Zugegeben: "Christlich"
war das Abendland tatsächlich einmal - in der Zeit der Kreuzzüge, der Hexen-
und Ketzerverfolgungen, zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, ja, selbst noch
zur Zeit des Nationalsozialismus, als Bischöfe beider Konfessionen "ewige
Treue zu Gott und dem Führer" von den Kanzeln predigten. Doch diese Zeiten
des "christlichen Abendlandes" sind schon lange vorbei - und das ist
auch gut so!
Denn für die Entwicklung des modernen Rechtsstaates war
nicht der Einfluss des Christentums entscheidend, sondern vielmehr die Befreiung
von ihm. Es war ein kluger Schachzug der Aufklärungsbewegung, den Herrschaftsbereich
des Glaubens mehr und mehr aus der Öffentlichkeit zu verbannen und Religion
zur Privatsache zu erklären. Hinter diesen Stand der kulturellen Entwicklung
dürfen wir heute keineswegs zurückfallen. Vielmehr gilt es, die unvollendete
Trennung von Religion und Politik weiter ausbauen. Die meisten Bürgerinnen und
Bürger in Deutschland haben dies längst begriffen (weshalb sie sich mit guten
Gründen gegen den politischen Islam wehren - und nicht gegen Muslime!). Leider
haben die meisten Politiker die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Sie verhalten
sich tatsächlich so, als sei Deutschland "keine zivile, säkulare Republik
freier Bürger, sondern die Summe seiner Religionsgemeinschaften, eine Art multikulturelle
Glaubenskongregation, ein einziger fortwährender Kirchentag unter dem gemeinsamen
Vorsitz von Margot Käßmann, Kardinal Meissner, Charlotte Knobloch und dem Zentralrat
der Muslime" (so Henryk M. Broder und Reinhard Mohr in ihrem lesenswerten
"Offenen Brief an den Bundespräsidenten").
Von Christian Wulff, der dem prämodernen Kreationistenclub von "ProChrist"
nahesteht, darf man wohl nicht mehr erwarten. Aber kann es denn wirklich sein,
dass die deutsche Politik fast ausschließlich von Leuten bestimmt wird, die
ideologisch so verblendet oder wissenschaftlich-philosophisch so ungebildet
sind, dass sie einfachste historisch-politische Zusammenhänge nicht begreifen?
Will denn tatsächlich niemand einsehen, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger
heute jede Form religiöser Bevormundung ablehnen? Ist es so schwer zu verstehen,
dass die Mehrheit der Deutschen weder in einer christlichen noch in einer islamischen,
sondern in einer offenen Gesellschaft leben möchte?! Darf man in diesem Zusammenhang,
wenn schon keine Einsicht vorhanden ist, nicht wenigstens ein bisschen Bauernschläue
von unseren politischen Vertretern erwarten? Oder glauben sie allen Ernstes,
dass eine mehrheitlich säkular denkende Wählerschaft es auf Dauer tolerieren
wird, dass die Politik archaische Kulte hofiert und öffentliche Steuergelder
in Milliardenhöhe für innerreligiöse Angelegenheiten verschleudert?
Die
unsägliche Rede des Bundespräsidenten zum Tag der Deutschen Einheit sollte,
wie ich meine, von säkular denkenden Menschen als Weckruf verstanden werden:
Wir dürfen es nicht länger hinnehmen, dass Politik über unsere Köpfe hinweg
gemacht wird. Sorgen wir also dafür, dass Politiker an die Macht kommen, die
den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen sind! Dass die momentane
Führungsriege der politischen Parteien dazu nicht in der Lage ist, hat die an
Niveaulosigkeit kaum zu überbietende Debatte um die Bundespräsidentenrede in
aller Deutlichkeit gezeigt.
Quelle: h/pd 10406