Wie einst um den Kamin sammelte sich die westdeutsche Familie in den 60er
Jahren um den Fernsehapparat. Es war so gemütlich. Hans-Joachim Kulenkampff
war immer fröhlich, wenn er mit seiner Quiz-Sendung "Einer Muss Gewinnen"
die Verständigung mit den Nachbarn in der "Europäischen Wirtschafts
Gemeinschaft" im Ersten Programm in Szene setzte. Seinen letzten Wahlkampf
hatte Konrad Adenauer mit dem handgeschnitzten Spruch "Keine Experimente"
gewonnen. Mit seinem Satz "Wir sollten jetzt mit der Naziriecherei einmal
Schluss machen, denn, verlassen Sie sich darauf, wenn wir damit anfangen, weiß
man nicht, wo es aufhört“ hatte er den Sargdeckel der angeblich verstorbenen
Nazi-Zeit vermeintlich endgültig zugeknallt. Es herrschte Ruhe im Land.
Als
dann, Auflage für Auflage, mit der "Blechtrommel" des Günter
Grass, ein Buch in den Sumpf der alten Bundesrepublik geworfen wurde, ein Buch
vom unter die Röcke und in die schmutzige deutsche Vergangenheit gucken,
da warf es Blasen, da klirrte es in der dumpfen Stille, da begann mancher gute
Sonntagsbraten nach Verwesung zu riechen, da platzte der demokratische Lack:
"Wir wollen darauf verzichten, in unserem Wahlkampf die Blechtrommel zu
rühren... Ich kann die unappetitlichen Entartungserscheinungen der modernen
Kunst nicht mehr ertragen." Diesen Satz kotzte Bundeskanzler Ludwig Erhard
1965 mitten unter die Delegierten eines CDU-Parteitages, und nur wenigen fiel
auf, dass der entartete Kunstbegriff der Nazis immer noch lebte.
Unter
den deutschen Geisteszwergen kam Unruhe auf, unter den Zipfelmützen schwitzten
die Haare, Gehirne kräuselten sich und dennoch wuchs eine Generation heran,
die man später die Achtundsechziger nennen sollte. Die wollte den westdeutschen
Einheitsbrei Brei nicht mehr essen, deren Dichter trugen Namen wie Böll,
Hochhuth oder Grass. Für die erfand ein Kanzler eigens einen Gattungsnamen:
"Da hört der Dichter auf, da fängt der ganz kleine Pinscher an."
- Schon als der späte Grass gestand, er sei als Junge, als Halbwüchsiger,
bei der Waffen-SS gewesen, sammelten sich die Zwerge wieder und bliesen zur
Jagd auf einen, der sie einfach überragte. Immer schon sei er ein falscher
Mahner gewesen, wussten die, die immer schon Angst vor Courage gehabt hatten,
vor allem der eigenen, die hofften, wenn sie nur genug Dreck auf den Grass warfen,
würde der eigene Stecken fleckenlos erscheinen.
Wer liest und hört,
was dem nun toten Grass nachgerufen wird, kann den Unterton der Erleichterung
bemerken. Vor allem aber erkennen die Nachrufer Grass´sche Verdienste
primär in ferner Vergangenheit. Je näher die Wirkung des politischen
Autors rückt, umso sicherer wird die Pinscher-Schublade wieder geöffnet.
Kaum einer von den Halali-Bläsern mag darauf verzichten "dieses schlechte
Gedicht", das "antisemitische Machwerk", den "Kreuzzug gegen
Israel" zu erwähnen. Das hatte die glatten Gesichter in Feuilleton
und Politik vor ein paar Jahren bis zur Kenntlichkeit verzerrt, als Günter
Grass es mit seinem Gedicht "Was gesagt werden muss" gewagt hatte,
vor der israelischen Atomrüstung zu warnen. Kühn probten die Zwerge
einen Aufstand, den sie gegen die wirkliche Macht im Land nie gewagt hätten.
Die
grausige Komik der Grass-ist-ein-Antisemit-Brüllerei, die nicht einmal
an seinem Grab verstummen will, fällt dem deutschen öffentlichen Stammtisch
nicht auf: Ausgerechnet dem Dichter, der er als erster in der Nachkriegsbundesrepublik
gewagt hatte vom deutschen Mord an den europäischen Juden zu schreiben,
klebte man das Mundtot-Pflaster des Antisemiten auf. Noch auf seinem Sarg
skandiert das untere deutsche Mittelmaß diese Anklage, die nichts anderes
beweist als den beklagenswerten Zustand des deutschen öffentlichen Verstandes.
Wie
ein Riese wirkte Günter Grass unter all den deutschen Zwergen. Manchmal
halten sich groß gewachsene Menschen absichtlich krumm, damit sie unter
den Kleineren nicht so auffallen. Vielleicht erklärt das die unerschütterliche
Nähe des Schriftstellers zur SPD. Warum er dieser Partei der vergorenen
Mittelmäßigkeit, deren Erfindung der westdeutschen Berufsverbote,
deren Vergnügen am NATO-Doppelbeschluss und deren Sozialfledderei mit der
Agenda 2010 die Treue hielt, kann sich nur aus diesem Verkleinerungswunsch erklären.
Macht nichts: Die SPD-Nähe wird bald vergessen sein. Was bleibt ist ein
überragendes Lebenswerk.
(Bild:
"Günter Grass auf dem Blauen Sofa" von Blaues Sofa from Berlin,
Deutschland - Günter Grass im Gespräch mit Wolfgang HerlesUploaded
by Magiers. Lizenziert unter CC BY 2.0 über Wikimedia
Commons)