Die Säkularisierung nimmt dramatisch zu. Seit etwa zehn Jahren erleben
die USA und viele Länder Europas eine rasante Entkirchlichung, darunter ehemals
religiöse Hochburgen wie Italien und Polen.
Zu diesem Ergebnis kommen Forschungen des Religionssoziologen Detlef Pollack
vom Exzellenzcluster "Religion und Politik" und seines Fachkollegen
Gergely Rosta. Sie betonen: Das Bild der tiefreligiösen USA muss revidiert
werden. Die Allianz der Evangelikalen mit Donald Trump hat dazu geführt, dass
sich immer mehr ohnehin religiös distanzierte Amerikaner ganz von der Religion
abwenden. In Russland hingegen erlebt die Orthodoxie einen Aufschwung – eng
gekoppelt an einen wachsenden Nationalstolz.
Die Säkularisierung hat neuen religionssoziologischen Forschungen zufolge
in den vergangenen zehn Jahren auch in bisher ausgeprägt christlichen Staaten
rapide zugenommen. "Wir beobachten etwa in den USA, Italien und Polen eine
rasante Entkirchlichung und in vielen Regionen der Welt einen dramatischen Bedeutungsverlust
von Religion", erläutert der Religionssoziologe Prof. Dr. Detlef Pollack
vom Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Uni Münster. Er hat
mit seinem Fachkollegen Dr. Gergely Rosta soeben eine stark erweiterte und überarbeitete
Neuauflage des Standardwerks "Religion in der Moderne. Ein internationaler
Vergleich" im Campus Verlag veröffentlicht. Es handelt sich um eine der
umfassendsten empirischen Untersuchungen religiöser Trends von 1945 bis heute.
"Vieles hat sich jüngst verändert: So bedarf das Bild eines säkularen
Europas auf der einen und den tiefreligiösen USA auf der anderen Seite der
Revision", so der Forscher. "Zudem stellen wir länderübergreifend
fest, dass der Glaube an einen personalisierten Gott abnimmt, der an eine unspezifische
höhere Macht zu. Dieser beeinflusst allerdings kaum noch die persönliche Lebensführung
und ist insofern ein Ausdruck fortschreitender Säkularisierung." Die Autoren
sehen die Säkularisierungstheorie, nach der Modernisierung zum Bedeutungsverlust
von Religion führt, durch viele Befunde bestätigt.
"Der internationale und umfassende Niedergang der Religionen seit dem Zweiten
Weltkrieg ist historisch beispiellos, in Westeuropa finden wir allenfalls punktuelle
Gegentendenzen", betont Pollack. "Dabei geht die Säkularisierung
in allen Ländern auf ähnliche Gründe zurück: Individualisierung, wachsendes
Wohlstandsniveau, ein breites Konsum- und Freizeitangebot und ein hohes Maß
an weltanschaulicher Vielfalt." Wichtige Faktoren seien zudem veränderte
Familienstrukturen und demografische Entwicklungen. "In Italien zum Beispiel
sinkt die Zahl der generationenübergreifenden Großfamilien, die zentral für
die Weitergabe des Glaubens sind. In Polen wiederum messen die aufstiegsorientierten
und mobilen Jüngeren der Religion eine viel geringere Rolle in ihrem Leben
zu als Ältere." Für die religiösen Traditionsabbrüche sind Barrieren
in der Weitergabe der Religion von der älteren zur jüngeren Generation in
hohem Maße verantwortlich: "Diese beeinflussen die Mitgliederzahlen
mehr als die Kirchenaustritte." Pollack sprach im Themenjahr "Tradition(en)"
des Exzellenzclusters, das Entstehung, Überlieferung und Wandel von Traditionen
beleuchtet. Er erläutert die Befunde auch im Forschungspodcast. Zentrale Ergebnisse
finden sich unten.
Die Studie basiert wie kaum eine andere auf einem reichhaltigen Datenmaterial für mehrere Kontinente und filtert politische, nationale und soziale Einflussfaktoren auf Religion heraus. Die Autoren sehen durch ihre vielfältigen Analysen die Säkularisierungstheorie als weitgehend bestätigt an, der zufolge Modernisierung zum Bedeutungsverlust von Religion und Kirche führt. Über Jahrzehnte stellte sie in den Sozial- und Geschichtswissenschaften das dominante Erklärungsparadigma des religiösen Wandels in modernen Gesellschaften dar. Seit mehr als zwanzig Jahren ist sie jedoch stark umstritten. "In Westeuropa gibt es heute kaum noch Gegentendenzen zur Säkularisierung", befindet hingegen Pollack. "Auch die Entwicklung hin zu einer individuellen Religiosität bestätigt den Trend, der nun selbst die USA umfasst – bisher oft ein Paradebeispiel für das Zusammengehen von Modernität und Religiosität." Die Säkularisierungstheorie könne viele Aspekte des religiösen Wandels in der Moderne erklären, sei aber durch andere Ansätze zu ergänzen, um regional zu beobachtende religiöse Aufschwünge wie etwa in Russland einzuordnen. Kritiker bezeichnen die Säkularisierungstheorie als deterministisch und beobachten eine Sakralisierung oder gar eine "Wiederkehr der Götter": Sie verweisen auf Debatten, in denen Religion als Medium zur Austragung politischer, ethnischer oder nationaler Konflikte in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen hat, etwa mit Blick auf Terrorakte oder Berichte zur Diskriminierung religiöser Minderheiten.
Säkularisierung in den USA
Mit Blick auf die USA führt der Religionssoziologe aus: "Während sich
2007 noch mehr als 90% der US-Bürger als gottgläubig bezeichneten, waren es
2017 zehn Prozent weniger, gegenüber knapp Dreiviertel im europäischen Durchschnitt.
Angesichts der Allianz von evangelikalen Christen mit den Republikanern geben
immer mehr Amerikaner, die bereits religiös distanziert sind, ihre religiöse
Bindung nun ganz auf." Zwischen religiösen Konservativen und säkularen
Progressiven habe sich eine neue Konfliktlinie gebildet, die sich etwa an unterschiedlichen
Haltungen zu Abtreibung und Homosexualität zeige: "Evangelikale Christen
mit ihren wertkonservativen Einstellungen fühlen sich in der liberaler werdenden
Gesellschaft der USA zunehmend marginalisiert. Sie haben sich von der Unterstützung
Trumps eine Stärkung versprochen. Aufgrund ihrer Allianz mit Trump und republikanischen
Werten sieht sich das Gegenlager jedoch in seiner Abkehr von Religion bestätigt",
erläutert Pollack. "Unsere Daten zeigen in mancher Hinsicht jetzt einen
ähnlichen Säkularisierungstrend wie in Europa."
Gerade in Westeuropa glauben mehr Menschen an eine undefinierte "höhere
Macht" als an einen persönlichen Gott, wie der Soziologe darlegt. "Dieser
unkonkrete Glaube hat im Unterschied zum personalen Gottesglauben kaum Einfluss
auf die Kindererziehung oder politische Einstellungen." Eine beachtliche
Minderheit von 20 bis 30% fühle sich zudem etwa von Glücksbringern, Horoskopen
oder Zukunftsdeutungen angezogen. Daher könne man nicht pauschal von einem
säkularisierten Europa sprechen. "Die Daten zeigen aber, dass eine Verbreiterung
der religiösen Formen nicht zu einer Vitalisierung des Glaubens führt. Religionssoziologisch
betrachtet, handelt es sich bei diesem unbestimmten Glauben vielmehr um eine
Zwischenstufe zur Säkularisierung."
Die Studie "Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich" ist kürzlich in erweiterter und aktualisierter Neuauflage im Campus Verlag erschienen und gilt als Standardwerk, dessen Erstausgabe aus dem Jahr 2015 bei Oxford University Press in Englisch vorliegt. Die Forscher nehmen Fallstudien für Italien, die Niederlande, Ost- und Westdeutschland, Polen, Russland, die USA, Südkorea und Brasilien vor und ziehen aus dem Vergleich zwischen Ost- und Westeuropa, den USA, asiatischen und südamerikanischen Ländern verallgemeinerbare Schlussfolgerungen. Sie zeichnen detailreich ein lebendiges Panorama des religiösen Wandels in verschiedenen Gesellschaften nach.
Aktuelle Analysen werden in den Untersuchungen durch historische Perspektiven ergänzt, zentrale religionssoziologische Theoreme auf eine empirische Basis gestellt – etwa die Markttheorie, laut derer ein pluralisiertes religiöses Angebot zu mehr Religiosität führt, oder die Säkularisierungsthese, die einen Bedeutungsverlust von Religion in der Moderne sieht. "Beide Theoreme erklären einzelne Entwicklungen, führen aber jedes für sich nicht zu einer regional und zeitlich umfassenden Deutung der Rolle von Religion in modernen Gesellschaften", stellt Pollack heraus. "Wir wollen sowohl den länderübergreifenden religiösen Niedergang als auch regional zu beobachtende Aufschwungsbewegungen der Religion erklären." Einbezogen ist eine Vielzahl an repräsentativen Datensätzen aus verschiedenen Zeiträumen: World Values Survey (WVS), International Social Survey Programme (ISSP), Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS), Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung.