Es war einmal ein kleines Mädchen namens Marie. Weil es aber so gern ein
rotes Käppchen trug, hieß sie einfach "Rotkäppchen" oder auch "Rütlihüslill,
weil einige ihrer Freunde aus der Schweiz kamen.
Eines Tages sollte Rotkäppchen ihre alte Oma im Häuschen am Wald besuchen.
Weil die Oma gern gute Sachen aß (und trank), brachte ihr Rotkäppchen eine
Flasche Wein (Ruländer Kabinett, Auslese) und einen Gugelhupf mit, den ihre
Mutter selbst gebacken hatte. (Er war furchtbar trocken und schmeckte Rotkäppchen
überhaupt nicht, aber vielleicht mochte ihn die Großmutter).
Mitten im finstersten Wald begegnete ihr der Wolf. Und weil er ihr schon öfter
begegnet war und Rotkäppchen Tiere gerne hatte (sie war ein astrologischer
Fisch) und der Wolf außerdem recht einsam war (seine Frau hatte sich vor ein
paar Monaten von ihm scheiden lassen, weil ihr sein Schwanz nicht mehr gefiel),
plauderten sie lustig, während sie miteinander gingen, und zuletzt fragte der
Wolf, ob er zur Oma mitgehen dürfe. Rotkäppchen hatte nichts dagegen, und
die Oma, eine lustige alte Dame, sicher auch nichts.
Beim Häuschen im Wald endlich angelangt, wurden sie von Oma mit lautem Hallo
begrüßt. Den Guglhupf verfütterte sie sogleich an ihre Hausvögel, einen
Papagei und einen Mäusebussard. Dafür holte sie eine saftige Schwarzwälder
Kirschtorte aus der Tiefkühltruhe (für sie selbst), eine butterweiche cremetriefende
Sachertorte (für Rotkäppchen) und eine Hasenkeule für den Wolf. Wenn Ihr
glaubt, Oma hätte eine tolle Tiefkühltruhe, dann müsstet Ihr erst mal ihren
Keller sehen! Dort reihte sich Flasche an Flasche, vom billigen Bauernwein bis
zum erlesenen Jerez aus Almeria.
Und weil sie Besuch gerne hatte, nahm sie gleich ein paar Flaschen mit. Dann
stellten sie oben die Stereoanlage ein und spielten Omas alte Rock'n’Roll-Platten,
aber so laut, dass die Vögel in den Bäumen ihre Nester mit Styropor zumauerten
und die Rehe sich mit Hilfe der Hasen gegenseitig Ohropax in die Ohren stopften.
Nur den Eichhörnchen machte das nichts, denn sie hatten die Musik gern und
tanzten eifrig mit.
Da kam der Jäger auf seinem morgendlichen Rundgang am Haus vorbei. Der Jäger
war so eine Art Polizist und achtete streng auf Recht und Ordnung. Und als er
die laute Musik hörte und die drei durchs Fenster eine Fress- und Sauforgie
feiern sah, da packte ihn die Wut. Er durfte sowas nämlich nicht. Seine Frau,
eine astrologische Jungfrau, achtete streng auf sauberes Essen und gab ihm nur
Karottenmüsli und Kräutertee.
"Aufhören!" schrie er ganz laut und klopfte so heftig gegen die Haustür,
dass sich der steinerne Hahn am Dachfirst löste und ihm auf den Kopf fiel.
"Ihr hört sofort mit dem Lärm auf!" Doch die drei hörten ihn nicht,
weil sie nämlich gerade zum Tanzen angefangen hatten und der Wolf das Rotkäppchen
über die Schulter warf, aber leider nicht auffing, sodass sie auf den Boden
plumpste.
Da trat der Jäger die Tür ein und verprügelte mit seinem Gummiknüppel die
drei fröhlichen Gesellen, die ganz belämmert herumstanden (oder soll ich sagen:
bewölfigt?) und nicht wussten, was sie tun oder sagen sollten. "Und ab
jetzt herrscht Ruhe!" brüllte der Jäger zum Schluss, "und du gehst
sofort in deine Höhle, du hast in einer Wohnung nichts zu suchen!" sagte
er zum Wolf. Was zeigt, dass er von Tieren nichts verstand, denn Wölfe wohnen
bekanntlich nicht in Höhlen. Er hatte den Wolf wohl mit einem Bären verwechselt.
Der Jäger plusterte sich auf wie ein Hahn, der seinen Nebenbuhler gerade besiegt
hat, stampfte herrschaftsgebietend auf den Boden, schulterte sein Gewehr (was
sollte er denn sonst schultern!) und polterte hinaus in sein Revier.
"Das zahlen wir ihm heim!" rief Rotkäppchen wütend, und die anderen
stimmten ihm bei. Aber wie? Sollten sie eine Beschwerde beim Kreisverwaltungsamt
einlegen? Sollten Sie die wilden Tiere des Waldes auf ihn hetzen? Oder sollten
sie ihn für immer ausschalten? Zuerst schreckten sie vor diesem Gedanken zurück,
aber dann gewöhnten sie sich dran. Er würde ihnen immer Kummer bereiten, selbst
als degradierter Verkehrspolizist. Und so schmiedeten sie einen teuflischen
Plan.
Der Jäger schrieb gerade einem Hasen einen Strafzettel, weil dieser auf einer
Wiese geparkt hatte, auf der "Betreten verboten - Eigentum der Kreisverwaltung"
stand, da kamen die drei Ruhestörer auf ihn zugerannt, mit wedelnden Armen
bzw. gesträubtem Haar.
"Herr Jäger" schrien sie, "bei uns ist ein schreckliches Monster!"
Der Jäger war misstrauisch. Mit dem Instinkt des ewig Zukurzgekommenen witterte
er eine Falle. Doch als Hüter von Recht und Ordnung musste er jeder Anzeige
nachgehen, und sei sie noch so sinnlos. "Wo ist denn das Monster?"
fragte er mit tiefer Stimme und versuchte dabei, spöttisch zu klingen. "Bei
uns im Brunnen" entgegneten die drei. "Na gut" sagte der Hüter
des Gesetzes, "dann wollen wir uns das ‘Monster‘ mal anschauen."
So marschierten sie zu viert zum Brunnen vor dem Haus der Oma. Der Jäger hielt
seinen Kopf über die Öffnung und sah hinein. Aber er sah nur sein Spiegelbild.
"Da ist gar kein Monster drin" rief er empört. "Noch nicht!"
riefen die drei Halunken, packten den Jäger an den Beinen und warfen ihn in
den Brunnen. "Aber jetzt!" schrien sie ihm höhnisch hinterher. Dann
gingen sie zurück ins Haus und feierten weiter ihre Orgien, ungestört von
frustrierten Wachebeamten.
Doch die böse Tat hatte Folgen, und unser Märchen endet moralisch. Die Oma
überaß sich und bekam Gallebeschwerden. Eine ganze Nacht lang drückte es
sie an der Seite, und erst dann war sie wieder normal. Rotkäppchen trank zuviel
vom guten Wein und bekam einen Kater. Und dem Wolf klangen von der vielen Rock-Musik
seine empfindlichen Ohren, sodass er einen ganzen Tag lang den Ruf der Wildnis
nicht mehr hören konnte.