Der Prozess
Der Franz/is mir/von ganz allein/ins Messer grennt. Kurt Sowinetz: https://soundcloud.com/kurt-sowinetz/notwehrtango
Hohes Gericht! Meinem Mandanten, Herrn Jospeh K. aus L., wird kaltblütiger
Mord an seinem Kompagnon Alfred G. vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft behauptet,
mein Mandant hätte Herrn G. ein Messer in die Brust gerammt, woraufhin dieser
allzufrüh und unfreiwillig aus dem Leben geschieden wäre. Zur Verteidigung
meines Mandanten muss ich feststellen, dass es genau umgekehrt war: Das Opfer
rannte von sich aus ins Messer, das mein Mandant zufällig in der Hand hielt.
- Diese Darstellung ist absurd.
Nicht so absurd, hohes Gericht, wie der Staatsanwalt meint. Denn jegliche Bewegung
ist relativ, und so könnte es genausogut umgekehrt gewesen sein: Die Geschwindigkeit
des Angeklagten war gleich null, die seines Gegenübers dagegen viel zu hoch.
- Völliger Unsinn.
Nicht so. Diese Erkenntnis ist die Grundlage der Relativitätstheorie, die bekanntlich,
wie Sie alle wissen, vom größten Genie des 20. Jahrhunderts geschaffen wurde.
Sie werden doch nicht an dieser Theorie zweifeln, Herr Staatsanwalt?
- An der Theorie nicht, wohl aber an ihrer Anwendung.
Hohes Gericht! Die Theorie kann in jedem Inertialsystem angewandt werden, das
sind Systeme ohne Beschleunigung. Und mein Mandant hat den Tod des Verstorbenen
in keiner Weise beschleunigt.
- Das war ja wohl auch nicht nötig. Außerdem hat er sehr wohl seine
Hand, die das Messer hielt, zu Beginn enorm beschleunigt, sonst wäre es nicht
so tief eingedrungen.
Hohes Gericht, eine eventuelle Anfangsbeschleunigung spielt keine Rolle. Es
geht um die Tat an sich, die durch das Postulat der Relativbewegung meinem Mandanten
nicht ausreichend zugeordnet werden kann.
- Diesen Unsinn kann ich mir nicht länger anhören. Als nächstes behauptet
mein Kollege von der Verteidigung vielleicht auch noch, der Zug verlässt gar
nicht den Bahnhof, sondern dieser wird den Passagieren unter den Rädern weggezogen!
(unterdrückt ein unpassendes Lachen)
Hohes Gericht, genau das hat unser Herr Dr. Einstein in einer seiner populären
Schriften gesagt. Da Sie mir aber nicht glauben, werde ich einen Zeugen
vorladen lassen. Da unser allseits verehrter Herr Professor Einstein bedauerlicherweise
nicht mehr unter den Lebenden weilt, habe ich ersatzweise seinen eifrigsten
Vertreter in Deutschland, Herrn Markus Pössel, als Zeugen der Verteidigung
vorgeladen. Herr Pössel -
Um es kurz zu machen: Der Angeklagte wurde trotzdem verurteilt. Das Gericht
hatte nämlich von der Verteidigung verlangt, die besagte Relativitätstheorie
zu beweisen. Was dieser nicht restlos und für alle überzeugend gelang. Der
Fall wird derzeit vom Europäischen Gerichtshof verhandelt.
(Für diejenigen, die es nicht wissen: Einen solchen Fall hat es tatsächlich
in ähnlicher Form gegeben. Der britische Holocaustleugner David Irving verklagte
im November 1995 vor einem Londoner Gericht die Autorin Deborah Lipstadt wegen
Verleumdung. Das Gericht verlangte daraufhin von der Beklagten, die Existenz
des Holocaust nachzuweisen!)