Humanistischer Verband Österreich
Präsident Dr. Andreas Gradert
Sehr geehrter Herr Generaldirektor Weißmann,
laut der APA
Presseaussendung vom 12. Januar 2024 haben Sie die Spitzen der 16 gesetzlich
anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften in Österreich zu einem Gedankenaustausch
in den ORF-Mediencampus eingeladen. Dabei haben Sie die Bedeutung unabhängiger
Religionsberichterstattung und deren Beitrag zu Verständigung und Zusammenhalt
in der österreichischen Gesellschaft besonders hervorgehoben.
In der Aussendung heißt es weiter: "Demokratie braucht … öffentliche
Diskurse und starke Stimmen, die sich zu Wort melden. Sie tun das immer wieder
und ermutigen mit Ihrer Arbeit viele Menschen, sich an verschiedenen Diskursen
zu beteiligen. Diese Stimmen braucht unsere Gesellschaft und die brauchen auch
wir im ORF, um ein ORF für alle sein zu können."
Das Diskursprinzip von Habermas besagt, dass Normen nur dann gültig seien,
wenn sie "die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen
Diskurses finden oder finden könnten". Alle Betroffenen sind in diesem
Zusammenhang auch und vor allem die vielen Nicht-Religiösen in unserem Land,
die unter den proaktiven normativen Aktivitäten von religiösen Gruppierungen
leiden. Beispiele sind die Sterbe-Assistenz, die wieder aufkeimende Abtreibungsdebatte
und der Ethikunterricht, der Kindern von religiösen Eltern vorenthalten wird,
aber auch eine ganze Reihe anderer Themen, die wir gerne substantiieren.
Wenn Sie nun in der APA-Meldung betonen, dass Glaube und Religion im Leben vieler Menschen in Österreich eine wichtige Rolle spielen und daher im ORF einen großen Stellenwert einnehmen, dann vergessen Sie bitte nicht, dass die am stärksten wachsenden Gruppen die der Nicht-Religiösen, der Konfessionsfreien und der säkular Denkenden sind.
In wenigen Monaten wird der Katholizismus keine Mehrheit mehr in diesem Land
haben, in Wien stellen die Konfessionsfreien bereits mehr als die Hälfte der
Bevölkerung, in Österreich knapp über 31 %, das ist mehr als das Zehnfache
als die Zahlen der Evangelischen Kirche, und bis zum Fünfhundertfachen jener
"starken Stimmen", die Sie zu sich eingeladen haben.
Konfessionsfreie wollen niemanden von ihren Ansichten überzeugen, das heißt
aber nicht, dass sie keine Interessen haben. Anders als die Religiösen haben
sie in unserem Gemeinwesen keinen Schutz, keine wirksame Vertretung, die bei
solchen Ereignissen eingeladen wird, und nicht nur keine starke, sondern gar
keine Stimme, meist ausgeschlossen vom Diskurs, und das widerspricht Ihrem Leitsatz
"ORF – für alle".
Weder sind die Konfessionsfreien in den entsprechenden Gremien vertreten, noch
sind sie im Programm ihrer gesellschaftlichen Bedeutung entsprechend berücksichtigt,
weil die Religionsabteilung sich nur für Religionen und nicht für Religionskritik
und Nicht-Religiöse zuständig fühlt, und ruft man als säkularer Humanist
im ORF an, so wird man auf die Religionsabteilung verwiesen.
Doch Säkulare und Konfessionsfreie sind bei den Events nicht eingeladen, bei
denen es sich um die "Abbildung des Querschnitts der Bevölkerung"
dreht. Wenn Sie nur alle Religionen einladen, so laden Sie damit gleichzeitig
fast ein Drittel der Bevölkerung aus.
Das kann auf Dauer nicht in Ihrem Interesse sein. Sie sind laut Gesetz
verpflichtet, den ORF so zu führen, dass dem Bevölkerungsquerschnitt Rechnung
getragen wird und nicht nur die Religionen und Religionsgemeinschaften einzuladen,
wie dies seit geraumer Zeit nicht nur im ORF Usus geworden ist.
Wir verweisen dazu an Einladungen zu den Enqueten Ethikunterricht und Sterbehilfe,
bei beiden waren zunächst keine Vertreter der Konfessionsfreien eingeladen,
obwohl es im ersten Fall genau um deren Interessen ging und im zweiten Fall
sie mitverantwortlich dafür waren, am 11.12.20 das alte Gesetz beim VfGh zu
Fall zu bringen und den Weg für das seit dem 01.01.22 geltende Sterbeverfügungsgesetz
zu ebnen, welches die rechtlichen Voraussetzungen für den assistierten Suizid
regelt.
Ebenso sollten wir, wie in anderen Ländern bereits praktiziert, im Publikumsrat
und in vergleichbaren Gremien vertreten sein, und hier sind wir nicht allein:
der Humanistische Verband Österreich ist Teil der Humanists International mit
weltweit über 170 Mitgliedsverbänden.
Der ORF hat zweifelsfrei einen gesellschaftspolitischen Auftrag für alle Menschen, die hier leben, bitte kommen Sie diesem Auftrag auch für die rund 31 % starke und schnell wachsende Gruppe der Konfessionsfreien in Österreich nach.
Über Ihr Gesprächsangebot in der Generaldirektion für unsere Anliegen
und Vorschläge werden wir uns sehr freuen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Andreas Gradert
Präsident Humanistischer Verband Österreich
Präsidium giordano bruno stiftung Austria
Präsidium Atheisten Österreich
Mag. Balázs Bárány
Präsident-STV Humanistischer Verband Österreich
Dustin Krinzer
Obmann Atheisten Österreich
DI Reinhard Schler
Präsident Humanistischer Verband Oberösterreich (AHA – Allianz für Humanisten
und Atheisten Oberös-terreich)
Peter Teyml
IG Säkulare Tirol
Dr. Rupert Biedrawa
Präsident Ökologisch-Humanistische Gesellschaft Salzburg
Autor
Dr. Andreas Gradert